“Wir vergessen nicht, wir gehen tanzen” – deutsch-israelisches Symposium im Berliner Radialsystem

Ein weiteres Amateur-Video, das die Welt nicht braucht. Möchte man denken, wenn man sich Adam “Adolek” Kohns Kurzfilm auf Youtube ansieht. Darin versuchen der 89-jährige Adolek Kohn zusammen mit seiner Tochter Jane Korman, Künstlerin und Initiatorin des Projekts, und deren drei Kinder, auf Gloria Gaynors 80-er Jahre Hit “I will survive” zu tanzen. Die Choreographie wirkt rührend unbeholfen, die Bewegungen der Tänzer sind nicht miteinander abgestimmt, alle wirken etwas verkrampft. Kohn hat noch viel größere Mühe als die jungen Leute, Schritt zu halten. Er verpasst regelmäßig den Einsatz und nimmt andauernd das falsche Bein.

So weit so schlecht. Innerhalb weniger Tage hat sich allerdings eine halbe Million Menschen weltweit das Video angesehen. Das hat einen Grund: Adolek Kohns Truppe tanzt in Auschwitz – unter dem Schild „Arbeit macht frei“, vor ehemaligen Krematorien und in einem nachgestellten Häftlingswaggon. Weitere Szenen des Clips wurden in Theresienstadt und in Kohns Heimatstadt Lodz gedreht. Adolek Kohn hat zusammen mit seiner Schwester als einziger unter 100 Verwandten Auschwitz überlebt. Dennoch stellt sich die Frage: Darf man das? Kohns Video hat bei seiner Erscheinung 2010 eine hitzige Debatte ausgelöst. Geschmacklosigkeit und das Herunterspielen der Bedeutung von Auschwitz waren noch die harmlosesten Vorwürfe.

Allerdings gab und gibt es auch zahlreiche Befürworter. Der Spiegel-Journalist Henryk Broder hält das Video für „eines der größten Kunstwerke nach 1945“. Auch auf den deutschen Autor Norbert Kron und seinen israelischen Kollegen Amichai Shalev scheint der Tanz der Kohn-Familie Einruck gemacht zu haben: Er lieferte ihnen das Motto für eine Anthologie junger deutscher und israelischer Schriftsteller, die sich literarisch mit der Kultur des jeweils anderen Landes auseinandersetzen. Der soeben veröffentlichte Band trägt den Namen „Wir vergessen nicht, wir gehen tanzen“. Am 13.4. haben Kron und Shalev ihr Werk im Berliner Radialsystem vorgestellt. Die Veranstaltung bildete sogleich den zweiten und letzten Teil eines zweitätigen deutsch-israelischen Symposiums. Der erste Teil der Veranstaltung hatte am Vortag im Jüdischen Museum stattgefunden. Dort hatten sich die Teilnehmer dem Thema „Popkultur und Gegenwartsliteratur – Erinnerung an die Shoah zwischen den Zeilen“ gewidmet.

 

(C) Lea Wagner

Die Herausgeber Norbert Kron und Amichai Shalev mit Moderatorin Shelly Kupferberg

Die Stimmung im Radialsystem ist ausgelassen bis feierlich. Das ist primär der erstklassigen Besetzung des Podiums geschuldet. Die beiden Herausgeber Norbert Kron und Amichai Shalev sind ein eingespieltes Team – im wahrsten Sinne des Wortes: Kennengelernt haben sie sich auf dem Fußballplatz; beide sind Mitglieder der jeweiligen Autoren-Nationalmannschaft. Aus Gegnern wurden Freunde mit zwei gemeinsamen Leidenschaften – dem Fußball und der Literatur. Die in Tel Aviv geborene, in Berlin aufgewachsene RBB-Journalistin Shelly Kupferberg tritt als Ko-Moderatorin auf. Eine bessere Wahl hätte es nicht geben können – Kupferberg erweist sich als ausgezeichnete Vermittlerin zwischen beiden Kulturen. Mit ihrem Charme versteht sie es, sogar aus eher introvertierten Panelisten witzige Anekdoten hervorzulocken.

Anwesend sind neun der neunzehn Autoren, die zu der Anthologie beigetragen haben. Unter ihnen sind die Gewinnerin des Deutschen Buchpreises Katharina Hacker, die mit ihrem in der Süddeutschen Zeitung erschienenen Nahostkonflikt-Tagebuch bekannt gewordene Autorin Sarah Stricker und der ebenfalls der deutschen Autorennationalmannschaft angehörende, schon zweimal mit dem Axel-Springer-Preis ausgezeichnete Journalist Moritz Rinke. Zu den anwesenden israelischen Autoren gehören die Schriftstellerin und Comic-Zeichnerin Anat Einhar und der Schriftsteller und Musiker Assaf Gavron. Gavron unterbricht die Diskussion auf dem Panel durch Musikeinlagen mit seiner Band “Mouth and Foot”.

Die allesamt der sogenannten dritten Generation angehörenden Panelisten sind sich einig, dass die Schuldfrage zwischen gleichaltrigen Israelis und Deutschen heute keine zentrale Rolle mehr spiele, zumindest auf der persönlichen Ebene. Die anwesenden deutschen Autoren, die teilweise in Israel gelebt haben (Hacker) beziehungsweise zurzeit dort wohnen (Stricker) heben die überbordende Gastfreundschaft der Israelis hervor. Die israelischen Teilnehmer hingegen bewundern die Offenheit Berlins. Gavron berichtet, für junge, nach Berlin pilgernde israelische Touristen spiele die Vergangenheit nur eine untergeordnete Rolle, im Vordergrund ihres Berlin-Besuchs stehe vielmehr das Vergnügen: „For them first comes the party, then the ghosts.“

(C) Lea Wagner

Völkerverständigung: Die anwesenden Autoren haben alle zu “Wir vergessen nicht, wir gehen tanzen” beigetragen.

Es wird geschätzt, dass zurzeit mindestens 30.000 Israelis in Berlin leben, Tendenz steigend. Die Angst vor antisemitisch motivierten Übergriffen hat jedoch in der letzten Zeit zugenommen. Anfang des Jahres hatte Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Juden davor gewarnt, in der Öffentlichkeit Kippas zu tragen. In der Nähe des Berliner Bahnhofs Freidrichstraße war im Januar ein Israeli angegriffen worden, nachdem er antisemitische Gesänge gefilmt hatte. Am Karsamstag wurde ein Israeli – ebenfalls in Berlin – ermordet. Der Hintergrund ist noch unklar. Fest steht: Wir müssen wachsam bleiben und Antisemitismus uneingeschränkt einen Riegel vorschieben.

Am 12. Mai begehen Deutschland und Israel den 50. Jahrestag der Aufnahme ihrer diplomatischen Beziehungen. In beiden Ländern werden zahlreiche Veranstaltungen stattfinden. Das wäre doch ein passender Anlass, wieder einmal gemeinsam tanzen zu gehen!

Photo (C) Radialsystem