“Crucca” in Italien: italienische Besonderheiten
Die Deutschen lieben Italien, aber wissen es manchmal nicht genug zu schätzen. Die italienische Unbekümmertheit, „la dolce vita“, wird häufig bewundert und doch belächelt – Pizza, Pasta, Sonnenschein ist gut und schön, aber leider nicht effizient. Doch die falsche Überheblichkeit muss zwangsläufig bröckeln, sobald man Italien wirklich kennenlernt. Die Grenzen deutscher Flexibilität sind schneller erreicht, als lieb ist, und die Erkenntnis lautet: man ist fast immer deutscher, als man denkt – und das ist nicht immer positiv! Meine Liebe zu Italien ist an dieser Erkenntnis gewachsen, an den markanten Eigenschaften einer Kultur, die mich spüren lassen, anders zu sein. Eigenarten, die sowohl seltsam als auch komisch sind, nervenaufreibend wie liebenswert. Klischeehaft und dennoch wahr – die Top-10 meiner Italien-Momente sind wie folgt.
1. Parliamo di cibo! – Lass uns über Essen reden!
Qualitativ hochwertiges Essen ist fundamentaler Bestandteil im italienischen Alltag. Eine gute Mahlzeit, zu Mittag und am Abend, zubereitet nach Plan und Vorbereitung, ist von unermesslicher Bedeutung. Essen ist so wichtig, dass es oft zum Hauptgesprächsthema wird: Italiener erzählen bereits beim Smalltalk, was sie über den Tag verteilt gegessen haben. Während Deutsche die traditionellen, landesüblichen Rezepte im Alltag meist vernachlässigen, hält sich der Italiener stets an klare Regeln in der Zubereitung. Und damit das Gesprächsthema niemals erschöpft ist, sind eben jene Regeln häufig Gegenstand hitziger Diskussionen. Kulinarische No-Gos (Fruchtsaftgetränke zur warmen Mahlzeit, Mais auf Pizza, besonders dramatisch: jegliche Kombinationen mit Ketchup) haben ein Potenzial zu gesellschaftlicher Empörung, das aus deutscher Perspektive kaum noch verständlich ist. Wie steht es um den Gesprächsbedarf in deutschen Küchen?
2. La colazione – Das Frühstück
Ernüchternder Gegensatz zu italienischem Anspruch an Mittag- und Abendessen bildet übrigens das Frühstück. Das besteht an einer italienischen Bar klassisch aus Caffè oder Cappuccino und einem Croissant. Frühstück ist in Italien ausschließlich süß, was für deutschen Geschmack gewöhnungsbedürftig sein kann. Frühstücken beansprucht außerdem geringsten Zeitaufwand – an einer Bar frühstückt der Italiener gar hastig im Stehen. Wichtig: Cappuccino trinkt man in Italien nur bis zur Mittagszeit, niemals am Nachmittag. Das ist wirklich typisch deutsch.
3. La salute – Die Gesundheit
Die Sorgfalt für eine gute Ernährung zeigt sich auch in der für körperliches Wohlbefinden generell. Es ist erstaunlich, mit welch präzisem Vokabular Italiener ihr gesundheitliches Leiden beschreiben können, und wie präzise sie im Gegenzug dazu die passenden Ratschläge in petto haben. Während so mancher Deutscher mit winterlicher „Schnoddernase“ doch noch joggen geht, weiß ein Italiener sofort, was gegen ein Kratzgefühl im hinteren Gaumenbereich zu unternehmen ist und welches Fleisch gegen ein allgemeines körperliches Unwohlsein hilft.
4. La origine – Die Herkunft
Italiener, die sich neu kennenlernen, brennen darauf, sich eine bestimmte Frage zu stellen: “Di dove sei di preciso?” – “Und woher kommst du genau?” Die italienische Herkunftsregion ist signifikant, gibt Auskunft über die Traditionen, dialektale Besonderheiten, manchmal auch Macken und Eigenarten einer Person. Der Italiener ist nicht nur äußerst heimatverbunden, sondern nahezu regional patriotisch. Dabei zeigen sich häufig vorurteilsbelastete Abneigungen und Sympathien bestimmten Regionen gegenüber – nicht selten sind es die Neapolitaner, die bedauerlicherweise schlecht wegkommen, grundsätzlich herrscht eine latente Spannung zwischen Norden und Süden. Und wie schaut es mit Vorurteilen gegenüber einer deutschen Herkunft aus….?
5. La communicazione – Die Kommunikation
Der Übergang von oberflächlicher zu persönlicher Gesprächsebene erfolgt unter Italienern viel rascher als unter Deutschen. Wie schnell fragen sich Italiener doch bereits im ersten Gespräch nach ihrer Herkunftsregion, wie schnell wird man auf persönliche Dinge angesprochen, auf einen Caffè oder zum Essen eingeladen. Menschen, denen man erst einmal begegnet ist, grüßen auf der Straße wie altbekannte Freunde. Zurück in Deutschland, kann die landestypische Kontakt-Scheu schon schmerzen: eine freundliche Bemerkung beim Bäcker, ein Lächeln in der U-Bahn und man fühlt sich gleich wie angewiesen auf besonders gutmütige oder gelassene Zeitgenossen, um keine komischen Blicke zu kassieren. Plötzlich wird sehr genau verständlich, was mit deutscher „Kälte“ gemeint ist.
6. Disponibilità di servizi – der Service-Bereich
Ein Feingespür für italienische Kommunikation im Service-Bereich zahlt sich aus. So neigen manche Angestellte dazu, Aussagen, derer sie eigentlich ungewiss sind, im Gegenteil sehr bekräftigend zu behaupten. Wichtig ist es aber, sich in solchen Situationen immer besonders höflich und gehorsam zu geben, damit man nicht den Anschein erweckt, die Kompetenz seines Gegenübers zu hinterfragen. Wenn der Nachtwächter zum Beispiel behauptet: „Nein, der Bankautomat im Innenhof ist nachts nicht zugänglich!“ bedeutet es unter Umständen: „Nein, ich habe keine Lust aufzustehen und will, dass du verschwindest!“ Ein Blick hinter die Kulissen lohnt sich fast immer.
7. Istituzioni pubbliche – öffentliche Institutionen
Italiener haben sehr wenig Vertrauen in öffentliche Institutionen. Sie hegen oft den Verdacht, hintergangen oder ausgenutzt zu werden und denken bei Unklarheiten häufig gleich an das Schlimmste vom Schlimmsten. Das wirkt aus deutscher Perspektive oft übereilt und unangemessen, ist aber verständlich, wenn man beachtet, dass die Angestellten in öffentlichen Institutionen oft tatsächlich nicht besonders eng zusammenarbeiten und ihre Entscheidungen im Alleingang nach Gutdünken (oder Willkür) fällen.
8. Puntualità – Pünktlichkeit
Dass Italiener unpünktlich sind, weiß die ganze Welt. Dass das in Wahrheit weniger problematisch ist, als häufig angenommen, soll an dieser Stelle mal betont werden. Wer keine Erwartungen hegt, kann auch nicht enttäuscht werden – wenn alle zu spät kommen, ist niemand benachteiligt. Eine Fahrt mit den öffentlichen Verkehrsmitteln Roms ist damit zwar anstrengend, aber nicht unbedingt stressiger als in Berlin, wo man an der eigenen Verspätung immer selbst die Schuld trägt. Italiener lassen sich nicht in Zeitpläne zwängen: „Sto arrivando“ heißt „Ich gehe gleich los“, und „Rimango solo un secondino“ heißt: „Ich bleibe erst einmal hier“. Wer das verstanden hat, darf einem Leben entgegenblicken, das entschieden gelassener und gesünder ist.
9. Il diritto del più forte – Das Recht des Stärkeren
In Italien musste ich lernen, meine Ellenbogen einzusetzen, wörtlich und auch im übertragenen Sinne. Umso weiter man in den Süden kommt, umso mehr erfährt man, dass „das Recht des Stärkeren“ den Alltag regiert. Man trifft es an der Schlange an der Kasse, bei einer Prüfung an der Uni und vor allem im Straßenverkehr. Zehn Minuten in einem vollen Bus dabei zuzusehen, wie der Busfahrer energisch Hupe und Wortschatz bedient, um den Fahrer eines in zweiter Reihe geparkten Autos aus den umliegenden Bars zu scheuchen, ist filmreif. Das „Recht des Stärkeren“ gilt auch an roten Ampeln: ein Italiener betrachtet es mitunter als persönliche Beleidigung, auf eine Aufeinanderfolge an roten Ampeln zu treffen und entscheidet selbst, welches Halte-Signal für ihn sinnvoll ist.
10. La furbizia – Clever sein
Das wahre „dolce vita“ hat erst derjenige begriffen, der auch das Konzept von „furbizia“ – “Schlauheit” oder besser: “List” – verstanden hat. So reich an Schönheit und Vielfalt Italien auch ist, der Italiener muss es verstehen, von dem Positiven zu profitieren und das Negative zu ignorieren. Dazu gehört es auch, Lästigkeiten auszublenden – und bewusst zu übergehen. Gemeint sind damit nicht unbedingt Parkzettel, Fahrscheine oder gar Steuerzahlungen, sondern auch grundsätzliche (auch legale) Wege, das Leben angenehm zu gestalten. Und selbst wenn: In meinen ersten Wochen in Florenz zeigte mir mein Mitbewohner, wie man mit einem speziellen Kleber die Bustickets präpariert, um sie nach dem Abstempeln wieder zu säubern und neu verwenden zu können. Auch wenn ich mir die Mühe letztendlich nie gemacht habe – es war wunderbar, mit anzusehen, welch eine Freude er dabei hatte.
Italien und Deutschland: zwei Kulturen, die so unterschiedlich sind und sich dennoch wunderbar ergänzen. Und auch wenn von Generalisierungen Abstand genommen werden muss und sicherlich noch viel weitere Punkte aufgezählt werden könnten, sollte ruhig öfters darüber diskutiert werden, was beide voneinander lernen können.
Foto © Bruno CC BY SA 2.0