Wer bin ich und wieso so viele? Das Junge Deutsche Theater inszeniert Alice nach Lewis Carroll

Die Erde ist eine rosafarbene Box. Zumindest in Nora Schlockers Inszenierung “Alice”, die zurzeit am Jungen Deutschen Theater in Berlin läuft. Auf der Bühne befindet sich zu Beginn nicht mehr als eine schwarze Scheibe mit einem Schlitz in der Mitte. Durch diesen klettern 16 Kinder zwischen neun und 19 Jahren. Ausgewählt wurden sie unter mehr als 150 Bewerbern. Um die Kinder besser kennenzulernen, bat Regisseurin Schlocker sie, ihr im Vorfeld des Castings jeweils einen Brief zu schreiben. Darin sollten sie die Frage „Wer bist du?“ beantworten. Nicht anders ging der Autor Lewis Carroll vor: Mit zahlreichen Kindern soll er Brieffreundschaften gepflegt haben. Die kleine Alice Pleasance Liddell war wohl sein Liebling. Sie stand der Protagonistin in Lewis’ 1865 erschienenen Erzählungen „Alices Abenteuer im Wunderland“ Modell.

Indem sie sich durch den Schlitz in der schwarzen Scheibe drängen, betreten die Kinder das Wunderland. Hier sind alle Regeln aufgehoben; die Logik des Erwachsenenlebens ist außer Kraft gesetzt. Zeit und Raum folgen anderen Gesetzen, Sprache ist sinnentleert. In Carrolls Erzählung stellt Alice schnell fest, dass das auswendig gelernte Schulwissen keine wirkliche Hilfe für sie darstellt. Im Wunderland wird sie aufgefordert, ein Gedicht aufzusagen. Nur hat sie den Text des Originals leider vergessen. Aus ihrem Mund kommt ihrer eigentlichen Bedeutung entfremdete Sprache.

Regisseurin Schlocker wollte Alice, das wohl bekannteste Kinderbuch aller Zeiten (sofern es denn überhaupt ein Kinderbuch ist), nicht zum hunderttausendsten Mal klassisch inszenieren. Die in der Erzählung vorkommenden, an Symbolcharakter reichen Figuren wollte sie nicht einfach eins zu eins übernehmen. Im Interview mit der Leiterin des Jungen Deutschen Theaters, Birgit Lengers, sagt Schlocker: „Bei meinem ersten Gespräch mit (…) der Kostümbildnerin (…) habe ich verkündet: ‚Eines weiß ich schon: Es gibt keine Spielkartenkostüme!‘ Tabula rasa! Im Zentrum sollen die Persönlichkeiten der Spieler stehen.“

Entstanden ist eine farbenfrohe, laute, manchmal etwas schrille, immer doch originelle Kakophonie. Schlocker hat Carrolls Vorlage bloß als Inspiration genommen. Ihr Mut hat sich ausgezahlt – Schlockers Kreation übertrifft das Original vielleicht sogar noch. Interessant ist vor allem, dass es bei Schlocker nicht nur eine Alice gibt. Alice wird von vielen Darstellern gespielt. Jeder kann Alice sein. Denn alle Mitspieler – sowie das Publikum, das auch des Öfteren eingebunden wird – dürften sich mit denselben Fragen beschäftigen, die auch Alice umtreiben: Wer bin ich? Welchen Gesetzen gehorcht die Welt? Und gibt es eine Alternative zur Welt der Logik?

Identitätsfindung ist schmerzhaft. Sie bedeutet, seine Schwächen akzeptieren, ja vielleicht sogar lieben zu lernen. Schlocker greift diesen Prozess auf: Ein Schauspieler charakterisiert seine Mitspieler – sie alle sind Alice in diesem Moment. Der Junge stellt seine Mitstreiter alle einzeln mit Namen und jeweils einem Charakteristikum vor. So weist er auf die Pausbäckchen eines Mädchens hin, betont die großen Brüste einer Kameradin und witzelt über den uncoolen Kleidungsstil eines weiteren Kompanie-Mitglieds.

Schlocker spart nicht an sozialkritischen Bezügen – auch wenn sich das Ensemble aus Kindern zusammensetzt und ein Großteil des Publikums ebenfalls aus Kindern besteht. Ein Mitspieler verdächtigt Sophia, ein griechisches Ensemble-Mitglied, “bestimmt viel Geld zuhause zu horten”. Auf ihr verdutztes Gesicht hin fragt er sie „Oder harzt du etwas?“. Laute Lacher gehen durch die Reihen. Kinderaugen auf der Zuschauertribüne werden dagegen weit aufgerissen, als sich zwei Schauspieler (die wohlgemerkt zu den älteren gehören) ausgiebig küssen. In einer Szene rauchen einige Darsteller Shisha. Ach ja, an Schimpfwörtern mangelt es auch nicht.

Schlockers Inszenierung ist witzig, abwechslungs- und einfallsreich. Gegen Ende zieht sie sich allerdings etwas. Da entsteht dann der Eindruck, dass nunmehr Szenen wild aneinandergereiht sind und der rote Faden fehlt. Dafür wird das Publikum am Ende noch einmal für seine Geduld belohnt: Die Schauspieler malen sich selbst. Es entsteht – binnen Minuten – ein beeindruckendes Wandbild. Einige wählen realistische Darstellungsformen, andere tragen etwas dicker auf und kreieren Wunschbilder. In jedem Fall beschäftigen sie sich mit der Suche nach dem Ich.

Während die Scheibe der Einstieg in das Wunderland war, bildet eine Tür an der Bühnenrückseite den Ausstieg. Der Aufenthalt in der wundersamen Parallelwelt ist nun abgeschlossen – und somit vielleicht auch die Kindheit. Ein neuer Abschnitt beginnt – auf ins Erwachsenenalter!

Alice

Premiere: 8. Februar 2015 an den Kammerspielen des Deutschen Theaters Berlin

Regie Nora Schlocker

Bühne Jessica Rockstroh

Kostüme Caroline Rössle Harper

Musik Paul Lemp

Choreographie Juli Reinartz

Dramaturgie Birgit Lengers

Besetzung: Mauri Bachnick, Felix Böttner, Elektra Breinl, Emmi Büter, Valentino Dalle Mura, Mascha Diaby, Luna Jakob, Tamino Köhne, Antonia Lind, Gynian Machacek, Laszlo Mattern, Bjarne Meisel, Konrad Muschick, Chenoa North-Harder, Emil von Schönfels, Sofia Theodorou

Weitere Termine in der aktuellen Spielzeit:

13. Mai 2015, 19.00 – 20.40 Uhr

29. Mai 2015, 11.00 – 12.40 Uhr

Junges Deutsches Theater

c/o Deutsches Theater 

Schumannstraße 13a, 10117 Berlin

Photo (C) Arno Declair