Die heldenhafte Schweigeminute einer rebellischen Schulklasse der DDR
Der neue Film des deutschen Regisseurs Lars Kraume erzählt die wahre Geschichte einer DDR-Schulklasse, die durch eine heldenhafte Schweigeminute gegen das Regime aufbegehrte.
Das schweigende Klassenzimmer (englischer Titel: The Silent Revolution) heißt das neue Filmdrama des deutschen Regisseurs Lars Kraume, das bei der 68. Berlinale in der Sektion Berlinale Special seine Weltpremiere feierte und am 1. März 2018 in die deutschen Kinos kam. Nach Der Staat gegen Fritz Bauer taucht Kraume mit dem Schweigenden Klassenzimmer erneut in die fünfziger Jahre der deutschen Geschichte ein. Der Film basiert auf wahren, im gleichnamigen Sachbuch von Dietrich Garstka geschilderten Begebenheiten und erzählt von einer ostdeutschen Abiturklasse, die 1956 eine Schweigeminute für die Opfer des antisowjetischen Ungarnaufstands einlegte und dadurch in Konflikt mit dem DDR-Regime geriet.
In einem Gespräch anlässlich der Berlinale äußerte sich Lars Kraume zu seiner Leidenschaft für die fünfziger Jahre der deutschen Geschichte, der Entstehung seines neuen Films und der Zusammenarbeit mit dem Zeitzeugen Dietrich Garstka.
Die Handlung
Stalinstadt (DDR), 1956. Theo und Kurt sind Schüler in einer Abiturklasse in Stalinstadt (heute Eisenhüttenstadt), 120 Kilometer von Berlin entfernt. Obwohl die Mauer noch nicht gebaut ist, werden Reisen zwischen Ost und West bereits strengen Grenzkontrollen unterzogen. Mit der Ausrede, zum Grab von Kurts Großvater fahren zu wollen, besuchen die zwei Freunde ein Kino in Westberlin und erfahren dabei in der Wochenschau vom Volksaufstand in Budapest. Zurück in Stalinstadt erzählen sie ihren Mitschülern von den aktuellen Ereignissen. Neugierig beginnt die Klasse, zusammen heimlich den RIAS (Rundfunksender mit Sitz in Westberlin, der nach dem Zweiten Weltkrieg von der US-amerikanischen Militärverwaltung gegründet wurde und in der DDR verboten war) zu hören. Sowjetische Panzer, Repression, Imre Nagy (Ministerpräsident des aufständischen Ungarns): Allmählich werden sich die Schüler der Unterschiede in der Berichterstattung von west- und ostdeutschen Medien bewusst. Während erstere den Aufstand als demokratischen Freiheitskampf feiern, verurteilen ihn letztere als faschistische Revolte. Durch den RIAS erfahren die Schüler vom vermeintlichen Tod des Fußballspielers Ferenc Puskás, der sich unter den ungarischen Aufständischen befand. Dies stellt sich später jedoch als Falschmeldung heraus. Tief berührt entscheiden sie sich für eine solidarische Schweigeminute während des Unterrichts im Gedenken an die Opfer. Daraus entwickelt sich schnell eine Staatsaffäre: Die Kreisschulrätin Kessler und der Volksbildungsminister Lange leiten Ermittlungen ein: Die Schüler werden manipulativ befragt, bedroht und erpresst, damit sie die Namen der Anführer der vom Regime als „stillen Revolution“ bezeichneten Tat preisgeben. Bei den Verhören kommen Familienkonflikte, Leichen im Keller und Verratsgeschichten ans Tageslicht. Die Schüler halten aber trotz des Drucks zusammen: Es gebe keine Anführer, es sei eine gemeinsame Aktion gewesen. Der Minister droht, die gesamte Klasse vom Abitur auszuschließen, wenn die Rädelsführer nicht benannt werden. Kurt, der Garstka spielt, wird besonderem Druck ausgesetzt, weil sein Vater Stadtratsvorsitzender ist. Die einzige Lösung, damit die Klasse ohne Verrat Abitur machen kann, scheint somit die Flucht in den Westen.
Lars Kraume und die fünfziger Jahre
„Obwohl sich die fünfziger Jahre in West- und Ostdeutschland im Gesellschaftsmodell – Kapitalismus gegen Sozialismus – radikal unterschieden, gibt es auch bestimmte Aspekte, die diese Zeit sowohl in der BRD als auch in der DDR stark prägten: Es geht um den Schock des Faschismus, die Unfähigkeit, mit der Vergangenheit umzugehen sowie die Verheimlichung der Komplexität der Geschichte und die Widerspenstigkeit in der Attribution von Schuld und Verantwortung. Das ist der Grund, weshalb ich die Fünfziger heute unheimlich spannend finde, obgleich ich sie in der Vergangenheit für eine eher unattraktive Zeit hielt. Es ging mit der Recherche über Fritz Bauer los, als ich wie viele andere Deutsche einfach nicht wusste, wer er war. Die absurde Tatsache, dass Bauer nicht im Bewusstsein von einer breiten Öffentlichkeit ist, hat mich fasziniert und somit auch die Vorstellung, dass in den Fünfzigern hinter jeder Ecke die Gespenster des Holocausts, des Kriegs und dieses unfassbaren Traumas hingen. Aus demselben Grunde habe ich mich dann für die Geschichte des Schweigenden Klassenzimmers begeistert“, so Lars Kraume zu seiner Leidenschaft für die fünfziger Jahre der deutschen Geschichte.
Eine der vielen DDR-Geschichten, in der das Individuum in Konflikt mit dem System gerät
„Ich stamme nicht aus der DDR und auch nicht aus der Generation der Protagonisten der Geschichte. Daher habe ich eng mit Dietrich Garstka zusammengearbeitet und mich eher als ‚Werkzeug‘ verstanden, um seine Geschichte für die Leinwand zu machen. Die Perspektive, aus der die Ereignisse im Film erzählt werden, gleicht deshalb eindeutig Garstkas Gesichtspunkt. Mein Ziel war es, durch diese Geschichte Werte wie Solidarität und Zivilcourage auch für ein junges Publikum begreiflich zu machen“, erklärt Lars Kraume, der den Club der toten Dichter (Originaltitel: Dead Poets Society) von Peter Weir als Vorbild für seinen letzten Film nennt.
„Die wahre Geschichte ereignete sich in Storkow, die sich aber nach der Wende so radikal veränderte, dass es heute unmöglich ist, dort ein historisches politisches Drama zu drehen. Deswegen haben wir uns für Eisenhüttenstadt, ehemals Stalinstadt, entschieden, deren Zuckerbäcker-Architektur und Arbeiterplanstadt die für jene Zeit typische Utopie des frühen Sozialismus und den Glauben an einer positiven Zukunft vollkommen verkörpern. Alle Leute um den Storkower See und den Scharmützelsee kennen diese Geschichte, die zweifellos nicht die einzige ihrer Art war. Ich habe zum Beispiel von einer ganz ähnlichen Geschichte erfahren, die sich in einer Mädchenschule ereignete. In der DDR-Zeit gab es bestimmt viele solcher Fälle, in denen das Individuum mit dem System kollidierte“, so erzählt der Regisseur, der darauf hofft, dass sein Film von möglichst vielen Schulklassen geschaut wird.
Cover-Bild: Das Schweigende Klassenzimmer Berlinale Special 2018 DEU 2017 by: Lars Kraume Jonas Dassler, Leonard Scheicher, Lena Klenke, Isaiah Michalski, Tom Gramenz © Studiocanal GmbH / Julia Terjung