Heimkehrer und Auswanderer: deutsche Mutter und italienischer Sohn erleben das neue Berlin
Das erste, was im November 2012 im Flieger Pisa-Berlin mit Easyjet auffiel: ein durchgehend junges Publikum, nicht älter als 30, nur Italiener, die einen geschniegelt und gewienert in ihren Markenklamotten und akkuraten Frisuren, die anderen mit Dreadlocks, abenteuerlich erweiterten Ohrläppchen und abgerissenen Klamotten. Wie man später erfahren sollte, handelte es sich bei den einen um die so genannten Easyjetter, die mal eben zur Wochenendparty nach Berlin einfallen und bei den anderen um italienische Neu-Berliner, die das so legendäre wie mittlerweile abgegriffene Berlin-Motto „arm aber sexy“ zum persönlichen Credo erhoben hatten.
„Komm, lass uns nach Berlin gehen“, hatte Mutter zu ihrem 24jährigen Sohn gesagt, als dieser, Frucht einer deutsch-italienischen Beziehungskomödie, aber zweisprachig und mit Informatikdiplom in seiner Heimatstadt Genua mal wieder keinen Job, aber zum xtenmal ein unbezahltes Praktikum, in Italien hochtrabend „Stage“ genannt, angeboten bekommen hatte.
Dass Muttern mit nach Berlin ging, lag wohl nicht so sehr an ihrer Sozialisierung als italienische Mama, die ihren Nachwuchs nicht loslassen kann, sondern in einem diffusen Gefühl, dass Italien als dreißigjährige Wahlheimat mit seinen bei den Deutschen ach so geliebten italienischen Momenten vielleicht doch nicht mehr das richtige ist und ein solides Deutschland mit einer noch solideren Angela Merkel ab einem gewissen Alter nicht von der Hand zu weisen ist.
So zogen denn Mutter und Sohn in ein Einzimmer-Apartment im Hinterhaus eines Altbaus und eher zufällig in die angesagte Prenzlauer Allee, Höhe Kollwitzplatz. Der Vermieter: ein Bielefelder Universitätsprofessor für Religionssoziologie, der das Apartment für ein „Appel und ein Ei“ in der Nachwendezeit erstanden hatte und jetzt in den Wintermonaten lukrativ vermietet. Die Wohnungssuche auf www.studenten-wg.de hatte sich zum Glück in Grenzen gehalten und langwierige Castings blieben erspart. Das fortgeschrittene Alter der Mutter und ihr akzentfreies Deutsch sorgte für die nötige Seriösität.
Dafür machte sie aber sofort Bekanntschaft mit der Mütterfront des Prenzlauerbergs, die da die Bürgersteige für ihre Hightech-Kinderkutschen oder Fahrräder mit Transportwagen (beide nicht unter 1500 Euro zu haben und somit unübersehbarer Statussymbol) versperrten und einen streng rügten, wenn man bei Rot über die Ampel ging von wegen schlechtes Beispiel für die Kinder.
Während Sohnemann noch die durch den rasanten Klimawechsel von Mittelmeergestaden zu frostig-grauem Novemberwetter verursachte körperliche und seelische Bronchitis auskurierte, verschickte Mutter für ihren Nachwuchs akkurat formulierte Motivationsschreiben samt lückenlosem Lebenslauf auf Jobangebote.
Den ersten Schritt eines neu zugewanderten Italieners in Berlin, nämlich für einen Mikrolohn bei einem Landsmann in dessen Pizzeria-Trattoria-Osteria schwarz in der Küche oder am Tresen zu arbeiten, wollte sich der Sohn schenken und gleich die nächste Hürde der Karriereleiter der auch in Deutschland hinreichend bekannten Prekärarbeit erklimmen: ein Job im Callcenter. Das klappte auch und das Büro, nur fünf Minuten zu Fuß in der Backfabrik an der Torstraße, winkte immerhin mit einem Jahresvertrag und bei Kündigung Arbeitslosengeld 1 ebensolange.
Der Sohn ließ sich beim Bürgeramt „anmeldare“, wie es in den einschlägigen Blogs und Facebook-Gruppen hieß, auf denen in jeder Hinsicht schon arrivierte Italiener die Newcomer mit handfesten Tipps und Tricks versorgten. 20000 Italiener sind in Berlin gemeldet, las man in Zeitungen, die Dunkelziffer sei doppelt so groß, wurde in gut unterrichteten italienischen Kreisen geraunt. Und in der Tat: Wohin man auch ging, man hörte Dantes Idiom. Mal ganz abgesehen von den Touristenschwärmen, die sich nur in Gruppen bewegten.
Interessant war, dass beim Outing von Mutter und Sohn als dem italienischen Stiefel Zugehörige, es einerseits zu überschwänglichen Solidaritätsbekundungen kam, die dann in Pizzerien mit mehr Bier als Wein fraternisiert wurden. Andererseits stieß man auf Landsleute, die ihre Wurzeln am liebsten verleugneten, nur Deutsch sprechen wollten und unverhohlen zum Ausdruck brachten, dass jedes weitere Südlicht in Berlin zu viel sei. Nach dem Motto: Wir haben es geschafft, aber für euch gibt es keinen Platz. Das war der Mutter nicht neu, denn Ähnliches hatte sie in ihrer Diaspora als deutsche Einwanderin in Italien auch mit Deutschen erlebt. Ein solches Gebaren jedoch bei jungen Leuten zu beobachten, die im vereinten Europa aufgewachsen waren, stimmte sie nachdenklich.
Und trotzdem: Sozialkontakte erfolgten für Mutter und Sohn erstmal über die italienische und nicht die deutsche Schiene. Beide wurden von der Italo-Community mit offenen Armen aufgenommen, sei es bei Veranstaltungen im Italienischen Kulturinstitut, bei Leseabenden in der Buchhandlung Mondolibro in der Torstraße oder in der schnell gefundenen Stammkneipe Sorsi&Morsi in der Marienburger Straße, wo es zum Getränk den sonst in Berlin so schmerzlich vermissten Teller mit kleinen Köstlichkeiten gibt.
Der erste Winter in Cruccolandia war lang und kalt. Während der Sohn morgens tapfer durch den Schnee stiefelte und versuchte, von durch die Minusgrade unbeeindruckten Radfahrern nicht umgefahren zu werden, musste Mama ihr Deutsch updaten. Verpasst hatte sie in Italien die Entwicklung der deutschen Technologiesprache und was eine Mietschuldenfreiheitsbescheinigung ist, war ihr auch unbekannt. Ebenso fehlten ihr 30 Jahre lang deutsch-deutsche Geschichte, die sie nun hautnah im Prenzlberg erleben durfte, wobei ihr der Unterschied zwischen früheren Ureinwohnern und später Zugezogenen für immer ein Rätsel bleiben würde.
Nach eineinhalb Jahren und einem zweiten Winter mit milden Temperaturen und viel Sonne als unerwartete Entschädigung für den ersten hat Sohnemann Karriere gemacht und ist nun für die italienische Klientel eines großen Internetanbieters zuständig. Und während Mama sich eine Wohnung im noch authentischen, von keiner Gentrification betroffenen Teil vom Prenzlberg am Ernst-Thälmann Park zugelegt hat, ist der Sohn in eine ebenso erschwingliche wie schöne Altbauwohnung nach Weißensee gezogen. Das italienische Klischee, dass die erwachsenenen Kinder möglichst höchstens 3 km von der heimatlichen Elternwohnung entfernt wohnen, ist mit knappen 900 m zwischen Mutterns und Sohnemanns Domizil, mal wieder zutreffend. Beide legen jedoch Wert auf die Feststellung, dass das “reiner Zufall” war.
Jacqueline Tschiesche: cittadina europea, giornalista, traduttrice, insegnante di tedesco e molto altro, è tornata alla fine del 2012 in Germania dopo aver vissuto per 30 anni a Genova. Non aveva lasciata nessuna valigia a Berlino, per parafrasare una famosa canzone di Hildegard Knef e quindi vive e racconta la città e la Germania dagli occhi di una expat. Mantiene molti ponti in Italia e secondo i suoi amici tedeschi soffre della sindrome da mama italiana. Questo le ha permesso di creare l’iniziativa Startboxberlin, un aiuto per giovani e meno giovani italiani, a superare i primi ostacoli nella loro nuova vita alla Sprea .