Die unerträgliche Leichtigkeit des (Nicht-)Seins: “Waiting for Godot” am Deutschen Theater Berlin
Das das Leben jeglichen Sinnes entbehrt, mag so sein – jedenfalls, wenn man den Existentialisten Glauben schenkt. Das bedeutet allerdings nicht zwangsläufig, dass die Kunst diese vermeintliche Sinnfreiheit widerspiegeln muss. Samuel Becketts „Wainting for Godot“ tut jedoch genau das, ganz nach Manier des Absurden Theaters. Die zurzeit am Deutschen Theater in Berlin gezeigte, in Zusammenarbeit mit den Ruhrfestspielen Recklinghausen entstandene Inszenierung von Regisseur Ivan Panteleev orientiert sich eng am Text. Wer auf Handlung Wert legt, ist hier falsch. Wer jedoch bereit ist, sich von herkömmlichen Sehgewohnheiten frei zu machen und sich auf ein Denkabenteuer einzulassen, wird an Panteleevs Umsetzung – trotz nahezu fehlenden Plots – seine Freude haben.
Erwähnenswert ist vor allem das von Martin Person entworfene Sounddesign: Düstere, dem Donnerschlag ähnelnde, kaum bewusst wahrnehmbare Töne untermalen, mit wenigen Unterbrechungen, die gesamte Inszenierung. Auch der US-amerikanische Filmregisseur David Lynch bediente sich einer ähnlichen Technik in seinen Filmen „Mulholland Drive“ und „Lost Highway“.
Auch das Bühnenbild in Panteleevs Inszenierung verdient Beachtung: Bühnenbildner Mark Lammert bringt die Charaktere in Schieflage: Die Bühne ist in einem circa 20 Grad messenden Winkel gekippt. Die Protagonisten haben Mühe, gerade zu stehen, oftmals rutschen sie ab. In der Mitte der Bühne befindet sich ein kreisrunder Krater, aus dem die Figuren emporsteigen und in dem sie wieder verschwinden. Die Tatsache, dass der Krater das einzige Bühneninterieur ausmacht, unterstreicht seinen metaphysischen Charakter. Die Öffnung des Kraters ist nicht gerade, sondern trichterförmig. Dadurch können sich die Figuren am Rande des Abgrunds entlang bewegen. Mitunter rennen sie frenetisch im Kreis, als befänden sie sich in einem Hamsterrrad.
Dass Panteleevs zweieinhalb stündige Inszenierung trotz der kargen Handlung erträglich, mitunter sogar sehenswert ist, liegt vor allem an den Schauspielern Wolfram Koch (in der Rolle des „Estragon“) und Samuel Finzi (in der Rolle des „Wladimir“). Sie spielen zwei Landstreicher, die nun schon seit fünfzig Jahren Seite an Seite leben. Der Grund für diese Zweckgemeinschaft liegt auf der Hand: Die beiden ergänzen sich mustergültig. Estragon ist Skeptiker und Pessimist, Wladimir Optimist und Philanthrop. Koch und Finzi hauchen ihren Rollen durch bis ins kleinste Detail sitzende Mimik, Gestik und Diktion derart viel Leben ein, dass man glatt vergessen könnte, im Theater zu sein. Ein absoluter Höhepunkt ist die Szene, in der die beiden Pantomime aufführen, womit sie sich ein kleines Zubrot verdienen: Sie spielen (imaginär) Golf, Tennis und Schach – und das mit einer Hingabe und Komik, dass man Beckett glatt die in der Inhaltsleere seines Stücks bestehende Provokation verzeihen möchte.
Ein Meisterstück existentialistischer Kunst bildet ein von Charakter Lucky gehaltener Monolog. Lucky (gespielt von Andreas Döhler) ist der Diener des Großgrundbesitzers Pozzo (gespielt von Christian Grashof). Lucky und Pozzo leisten Wladimir und Pozzo zeitweise Gesellschaft. Denn auch Pozzo will wissen, was es mit diesem mysteriösen Godot, auf den die beiden Landstreicher warten, auf sich hat. Mit Pozzo und Lucky hat Beckett eine sozialkritische Dimension in sein Stück eingeführt: Pozzo betrachtet Lucky als Eigentum. Er lässt ihn Tanzeinlagen vorführen wie ein Zirkustier. Doch damit nicht genug: Als besondere Attraktion für Wladimir und Estragon lässt Pozzo Lucky philosophieren. „Denke, du Schwein!,“ ruft er ihm zu. Aus Lucky Mund sprudeln allerlei hochtrabende Worte. Man meint, Traktate großer Philosophen herauszuhören. Allerdings verheddert sich Lucky, kommt ins Stottern, überspringt Stellen und wiederholt wiederum andere. Erhabene Worte vermengt er mit profanen Einsprengseln aus dem Alltag, was einen komischen Effekt erzeugt: „(…) leider ich wiederhole man weiß nicht warum trotz Tennis die Dinge sind so man weiß nicht warum ich wiederhole (…).“ Als hätte sich das überstrapazierte Gehirn der Maschine Mensch mal kurz aufgehängt.
Die sinnentleerte Sprache trifft man häufig im Absurden Theater an. Man muss sie nicht mögen – zugegebenermaßen kann sie recht anstrengend sein. Generationen von Schulkindern dürften Beckett in den höchsten Tönen für sie verflucht haben. Ein 2008 von einem französischen Gymnasiallehrers Valentin Temkine veröffentlichter Fund dürfte viele nun mit Beckett aussöhnen: Temkine behauptet, „Warten auf Godot“ sei alles andere als abstrakt und sinnentleert. Seiner Ansicht nach sind Wladimir und Estragon Juden, die während des zweiten Weltkriegs in einem Versteck auf den Schlepper Godot warten: Godot soll sie aus dem von den Nazis besetzten Frankreich Richtung Süden bringen. Für Temkines These spricht zum Beispiel die Tatsache, dass sich Estragon und Wladimir mehrfach über einen möglichen Freitod unterhalten. Wladimir sagt: “Hand in Hand hätten wir uns vom Eiffelturm runtergestürzt, mit den ersten. Da sahen wir noch anständig aus. Jetzt ist es zu spät. Die würden uns nicht einmal rauflassen.” Temkine gibt zu bedenken, dass nur Juden der Zutritt zum Eiffelturm seitens der Besatzungsmacht untersagt war. Beckett war in der Résistance aktiv. “Die Nazis widerten mich so an, insbesondere, wie sie die Juden behandelten, dass ich einfach nicht, die Hände in den Taschen, dabei zusehen konnte,“ soll er gesagt haben.
Ob Temkine recht hat mit seiner Interpretation, ist nicht mehr in Erfahrung zu bringen: Beckett verstarb am 22. Dezember 1989 in Paris. Letztendlich ist es aber womöglich gar nicht so wichtig, was sich der Autor bei “Waiting for Godot” gedacht hat. Möge doch der Zuschauer dem Gesehenen Bedeutung verleihen. Oder er entscheidet sich bewusst dagegen und erfreut sich an der Komik. Komisch sind die Darsteller, aber genauso sehr die Sitznachbarn, die auf der Suche nach Sinn gequält die Stirn runzeln.
Berlin-Premiere war am 28. September 2014 im Deutschen Theater
Regie Ivan Panteleev
Bühne und Kostüme Mark Lammert
Sounddesign Martin Person
Dramaturgie Claus Caesar
Besetzung Wolfram Koch, Samuel Finzi, Andreas Döhler, Christian Grashof
Nächste Termine:
08. Mai 2015, 19.30 – 21.45 Uhr
09. Mai 2015, 19.30 – 21.45 Uhr
12. Mai 2015, 20.00 – 22.15 Uhr
Schumannstraße 13a, 10117 Berlin
Photo (C) Arno Declair