Der Heimathafen Neukölln und das Theater der Migranten inszenieren “Herz der Finsternis” in Berlin
Stell dir vor, du wachst auf, und die Verhältnisse sind auf den Kopf gestellt: Subsahara-Afrikaner fragen dich, wohin du zu reisen gedenkst, ob es Fälle von Wahnsinn in deiner Familie gibt und ob du Kartoffeln isst. Auf die Frage, wie viel Geld du für die Mittelmeerüberquerung auszugeben gedenkst, nennst du eine Ziffer. Man lacht dir höhnisch ins Gesicht. Mit einem Lineal wird dein Gesicht vermessen, mit einem Metallhämmerchen klopft man dir auf die Stirn. Und dann wirst du auch noch angehalten, das Boot, mit dem du für viel Geld Europa erreichen willst, selbst zu bauen. Mit Schrecken stellst du fest, dass die anderen so wenig davon verstehen wie du. Nach wenigen Minuten ist das Gummigefährt fertig. Du schleppst es zum Wasser. Auf dem Weg dorthin werden dir Befehle zugerufen in einer Sprache, die du nicht verstehst. Du wirst mit Ästen geschlagen und dazu animiert, in einen dir unverständlichen Refrain einzustimmen. Sechs wie Soldaten aussehende Männer, geben dir zu verstehen, dass es besser ist, keine Fragen zu stellen.
Diesem Experiment setzt sich jeder aus, der eine Karte für „Herz der Finsternis“ erwirbt, das Regisseur Oleg Witt im Auftrag des Heimathafens Neukölln gemeinsam mit dem Theater der Migranten inszeniert hat. Auf dem Flyer werden Outdoor-Bekleidung und festes Schuhwerk empfohlen. Die sind nötig, weil die Zuschauer ein Boot besteigen. Nicht das Gummiboot, das mit an Bord genommen wird, sondern ein echtes Boot – die „Anarche” des Freimeuter-Kollektivs. Bei Einbruch der Dunkelheit geht es los. Mit grellen Taschenlampen leuchten die Schauspieler den Zuschauern ins Gesicht, sodass man kaum noch den Weg erkennt und leicht ins Stolpern gerät. Im Publikum macht sich Unsicherheit breit, einige lachen nervös. Keiner weiß so genau, worauf er sich einlässt. Zu Beginn der Vorstellung hat jeder Zuschauer – „Mitwirkender“ trifft es eigentlich besser – hastig ein Papier unterzeichnet. Diese Probemitglieschaft beim Kulturfluss e.V., dem Betreiber der „Anarche“, ist aus juristischen Gründen nötig, um befördert zu werden. Man ahnt, wenn auch nur bruchteilartig, das Gefühl der Ohnmacht, dem sich Flüchtlinge vor einer Mittelmeerüberquerung ausgesetzt fühlen müssen. Als das Boot ablegt, stehen viele junge Menschen, ein Bier in der Hand haltend, ungläubig am Spreeufer. Zu gern wüssten sie, wovon sie gerade Zeuge werden. Eine Gruppe von Picknickern mutmaßt, es handle sich um eine Sekte, ein Junge fängt an, „Hare Krishna“ zu singen, seine Freunde stimmen lachend mit ein. Auf das Berliner Publikum ist Verlass – es ist Teil der Installation, die Regisseur Witt als „stark improvisiert“ beschreibt. „Wir wussten selbst nicht, was dabei herauskommt. Danke, dass Sie mitgemacht haben“, sagt er später zu seinem Publikum.
Eine zum Schauspieler-Kollektiv gehörende junge Dame namens Genifer gibt zunächst ihre eigene Fluchtodyssee wieder – vom Kongo über Namibia nach Deutschland, dann nimmt sie die Rolle der Erzählerin ein. Dabei rezitiert sie Passagen aus Joseph Conrads kolonialismuskritischem Roman „Herz der Finsternis“. Während das Boot langsam über die abendliche Spree gleitet, ertönt aus Lautsprechern die Erzählung eines Maliers, der von seiner jahrelangen Flucht nach Europa berichtet. Seiner im wieder ins Stocken geratenden, nach Worten ringenden Stimme ist die Verzweiflung immer noch deutlich anzumerken. Er beschreibt, wie er mit Waffengewalt auf ein Boot getrieben wurde: „You better die on the sea.“ Am vorbeiziehenden Ufer wird die Performance fortgesetzt. Immer wieder tauchen einzelne Schauspieler aus der Finsternis auf und halten Transparente in die Höhe: „Die Lage ist sehr ernst“, „Zweihundert Meilen“ und „Beeilt euch!“ steht darauf geschrieben.
Irgendwo im Nichts endet die Fahrt. Alle schauen sich fragend um. Geleitet von der Erzählerin tritt das Publikum nun den Weg durch eine Industriebrache am Spreeufer an. Durch Matsch und über Steine geht der Weg – spätestens hier leuchtet die Empfehlung, feste Schuhe zu tragen, ein. Die Gruppe wandert auf stillgelegten Gleisen durch einen Tunnel, ein Hund kläfft wütend hinter dem Zaun eines nahegelegenen Fabrikgeländes. Der Tunnel wird durch Fackeln erhellt, auf den Schienen steht ein Klavier. Es ertönt die Melodie von „Apologize“. Dazu führen die Schauspieler eine Pantomime auf. Die dunkelhäutigen Schauspieler tragen fratzenhafte weiße Masken, eine hellhäutige, ganz in Weiß gekleidete Frau hat sich eine schwarze Maske aufgesetzt, sie ringt mit den weißen Masken. Nun geht es weiter, eine steile Uferböschung hoch. Sie ist derart steil, dass viele ein Seil für den Aufstieg benötigen. In einem Hof ist die letzte Versuchsstation aufgebaut. Zunächst begegnet man den dunkelhäutigen Männern, wie sie reglos und nur spärlich bekleidet auf dem Boden liegen. Dann ziehen sie sich an, sie schlüpfen in Bürokleidung mit Hemd und Krawatte. Verheißungsvoll nehmen sie jetzt nacheinander jeden einzelnen Zuschauer an der Hand und führen ihn ins „Paradies“. Sie stellen Essen in Aussicht (warme Pizzastücke werden in der Tat wenig später serviert) und führen ihr perplexes Publikum durch einen Garten an einen Seerosenteich. Auch wenn klar ist, dass wir uns nun in Deutschland befinden, fühlt man sich unweigerlich an Ulrich Seidels „Paradies Liebe“ erinnert: Die Ausbeutung durch die Kolonialherren hat sich vom Zuckerrohrfeld in Hotelzimmer mit Kingsize-Betten verlagert.
Hier endet die Reise. Das Publikum applaudiert mit großem Durchhaltevermögen, doch sofort macht sich Unsicherheit breit: „Wo sind wir?“. Der Regisseur lacht: „Mit dieser Frage habe ich gerechnet!“ Er gibt ein paar vage Hinweise, erzählt etwas von einem letzten Bus, der in wenigen Minuten fahren müsse. Mittlerweile ist es Mitternacht. Die Zuschauerkolonne macht sich hektisch auf den Weg, eigentlich war noch ein Gespräch mit dem Regisseur für diesen Abend vorgesehen, doch profane Notwendigkeiten haben jetzt Priorität. Die Gruppe verpasst den erwähnten Bus um wenige Sekunden. Bleibt nur der Fußweg durch ein spärlich beleuchtetes Industriegebiet bis zum nächsten S-Bahnhof. „Bon voyage“ stand ebenfalls auf einem Transparent, das zwei Hände am Ufer in die Höhe hielten.
Herz der Finsternis – eine nächtliche Expedition auf Berliner Gewässern
Inszeniert vom Heimathafen Neukölln und Theater der Migranten
Weitere Vorstellungen: 25.7., 31.7., 1.8. jeweils um 21h
Start: Am Flutgraben 3, Berlin
Eintritt 20€, ermäßigt 15€
Die Vorstellungen sind ausverkauft, allerdings sind Restkarten an der Abendkasse erhältlich.